Als ich vor einigen Wochen im Anschluss an einen ehrenamtlichen Einsatz mit meinem Fahrrad noch zur Abendmesse radeln wollte, fand ich den Ort, wo ich es zuvor abgestellt hatte, leer vor. Nachdem ich die nähere Umgebung abgesucht hatte, musste ich der Tatsache ins Auge sehen, dass mein Rad gestohlen worden war. Am hellen Tag, mitten in der belebten Innenstadt und dazu noch abgeschlossen – den Schlüssel hatte ich noch in der Rocktasche! Statt den Arbeitstag mit dem Gottesdienst ausklingen zu lassen, saß ich dann bei der Polizei, um Anzeige zu erstatten … Ich war empört und wütend. Aber so richtig! Wenig christlich, aber sehr spontan wünschte ich dem unbekannten Dieb einen ordentlichen Sturz mit dem Rad – natürlich nicht mit gefährlichen Folgen, aber schon so, dass es weh tut.
Im Laufe des Abends verrauchte mein Zorn etwas, und mir ging auf, dass ich über den Menschen, der mein Rad gestohlen hatte, und seine Lebensumstände gar nichts wusste. Wer weiß, vielleicht hat er ja aus einer Notsituation heraus gehandelt? (Was die Tat natürlich nicht entschuldigt …) Mir fiel der Satz Jesu aus dem Matthäusevangelium (5, 44) ein: Liebt eure Feinde und betet für die, die euch verfolgen. Bevor ich schlafen ging, tat ich das: Ich betete für den Dieb meines Rades. Dabei spürte ich, dass Jesus uns damit wirklich einen klugen Rat gegeben hat. Wenn ich nämlich ehrlich versuche, für jemanden zu beten, verändert sich mein Verhältnis zu ihm, und ich kann ihm unmöglich gleichzeitig „die Pest an den Hals“ (oder einen Fahrradsturz) wünschen.
Den Fahrraddieb kenne ich nicht, aber noch schwerer fällt es mir, wenn ich der Person, über die ich mich ärgere, auch noch ständig begegnen muss. Einige Verse weiter im Matthäusevangelium (5, 46- 47) stellt Jesus provokante Fragen: Wenn ihr nämlich nur die liebt, die euch lieben, welchen Lohn könnt ihr dafür erwarten? Tun das nicht auch die Zöllner? Und wenn ihr nur eure Brüder grüßt, was tut ihr damit besonderes? Tun das nicht auch die Heiden? Ich glaube nicht, dass Jesus will, dass wir uns mit eingezogenem Kopf lammfromm alles gefallen lassen, sondern dass Er uns eine Möglichkeit zeigt, aus einer Spirale der Aggression (selbst, wenn sie sich nur in Gedanken abspielt) auszusteigen. Er lädt uns so dazu ein, in Seinem Geist zu handeln. Grüßen und Beten können ja schon mal ein Anfang sein, aus dem mit der Zeit dann vielleicht Vergebung wachsen kann …
Jesus verurteilt die Tat, aber nie den Täter, oder fromm ausgedrückt: Er verurteilt die Sünde, aber liebt den Sünder. Ein eindrückliches Beispiel gibt Er uns in Seiner Begegnung mit der Ehebrecherin, der Er, als alle Ankläger gegangen sind, ohne einen Stein auf sie zu werfen, sagt: Auch ich verurteile dich nicht. Geh und sündige von jetzt an nicht mehr! (Joh 7,53 – 8,11)
Wenn es mir ernst ist mit der Nachfolge, dann ruft Er mich auch hier auf, Seinem Beispiel zu folgen.
Sr. Silvia-Johanna